Bewegende steinerne Zeugen der Familiengeschichte


Am letzten Wochenende besuchte Roberto Lichtenstein die Heimat seiner Wurzeln im Neuentaler Ortsteil Waltersbrück und die Grabsteine seiner jüdischen Ahnen auf dem jüdischen Friedhof in Borken-Haarhausen.

Roberto wurde im Jahr 1962 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und lebt seit dem Jahr 2015 mit seiner Ehefrau in der Schweiz. Seine Großmutter Theresa Rothschild, genannt Rosel, wurde im Jahr 1889 in Waltersbrück als Mitglied der angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie Rothschild geboren. Sie war das zweitjüngste Kind der Familie, ihr Bruder Markus betrieb noch zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit ein Kaufhaus in Waltersbrück. Im Jahr 1929 heiratete Theresa den Witwer Joseph M. Hess in Aurich (Ostfriesland, Niedersachsen), der dort ebenfalls ein Kaufhaus betrieb. Ein Jahr später kam Robertos Mutter Else-Inge als Tochter der Familie dort zur Welt. Als in den Pogromnächten 1938 das Kaufhaus geplündert und Joseph verhaftet wurde, beschloss die Familie nach eingehenden Überlegungen nach Argentinien zu fliehen. Theresa hatte entschieden, „dieser Kontinent ist nicht mehr sicher für uns“. Am 27. März 1939 gelang von Hamburg aus mit der „Monte Rosa“ die Flucht nach Buenos Aires. Glücklicherweise konnten dabei viele Familienfotografien und Dokumente mitgenommen werden. Ebenso hat sich z.B. ein „Tagebuch“ der Überfahrt erhalten und auch die Grabrede, die Levi Katz im April 1932 am Grab von Johanna Rothschild, Robertos Urgroßmutter, hielt.

Robertos Großmutter hat, obwohl sie 36 Jahre in Argentinien lebte, bis auf wenige Worte nie die spanische Sprache erlernt, trotzdem hatte sie beim Einkauf keine Probleme und Zuhause sprach man nur deutsch. Das änderte sich auch nicht als Robertos Mutter Siegbert Lichtenstein heiratete und Roberto im Jahr 1962 die Familie komplettierte. Nahezu logisch war es dann auch, dass Roberto eine deutsche Schule besuchte, das Spanische hatte er bereits im Kindergarten gelernt.

Der Beginn der Veranstaltung mit über 50 Teilnehmern.

Theresa Rothschild (Hess), die Enkel Roberto als lebensklug und tapfer in Erinnerung hat, verstarb im Sommer 1976 im Deutschen Hospital in Buenos Aires, ihr Mann war bereits kurz nach Robertos Geburt verstorben. Beide starben zu früh für Roberto, um sie nach den familiären Wurzeln zu befragen. So hatte Roberto intensive und langwierige Forschungen zu tätigen, ehe ihm klar wurde, dass seine familiären Wurzeln zu einem großen Teil in Nordhessen lagen.

Nachdem es Thomas Schattner und Rainer Scherb im Zuge von Forschungen zur jüdischen Geschichte von Waltersbrück gelang, Kontakt zu Roberto zu bekommen, fügte sich vieles in Robertos Familiengeschichte zusammen. Bei einem Kurzbesuch im Frühsommer entstand bei einem Abendessen die gemeinsame Idee, am Tag des offenen Denkmals den jüdischen Friedhof in Borken-Haarhausen für die interessierte Öffentlichkeit zu öffnen und dabei Robertos Familiengeschichte mit zu thematisieren. Schließlich fanden nicht nur Robertos Urgroßeltern auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte, sondern auch Familienmitglieder in drei vorigen Generationen. So war es für den gebürtigen Argentinier einerseits ein erhabenes Gefühl, diesen Friedhof erstmals zu betreten, andererseits sehr emotional zu den eigenen Wurzeln zurück zu kehren und letzte Spuren seiner Vorfahren in sich aufzunehmen zu können.

Rainer Scherb, Roberto Lichtenstein und Thomas Schattner am Grab von Johanna und Seligmann Rothschild (1858 bis 1932 und 1848 bis 1925) aus Waltersbrück.

Im Rahmen einer öffentlichen Führung auf dem jüdischen Friedhof am letzten Sonntag gedachte Roberto deshalb auf eine eindringliche Art seinen Vorfahren, die den über 50 Teilnehmern der Veranstaltung sichtlich unter die Haut ging. Und vielleicht wird es bald schon einen weiteren Besuch geben, denn Roberto möchte unbedingt seiner Ehefrau Andrea, die kurzfristig krankheitsbedingt ihre Teilnahme absagen musste und seinen beiden erwachsenen Kindern, Ariel und Tamara, die ebenfalls in der Schweiz leben, die Wiege seiner Vorfahren zeigen. Das zeigte sich auch an folgender Anekdote, die Roberto in Haarhausen vortrug: „Ein Satz von der Oma Rosel, der in meinem Gedächtnis eingebrannt ist, lautet ´in der aller grössten Not, schmeckt die Wurst auch ohne Brot´. Anscheinend hatte sie während der deutschen Hyperinflationszeit ein Esspaket von den Eltern bekommen, mit Wurst aber eben ohne Brot. Ich war und bin Zeit meines Lebens ein Wurstliebhaber, also hätte ich mich auch hauptsächlich sowieso über die Wurst gefreut“.

Da zukünftig weitere Stolpersteinverlegungen in Zimmersrode und ebenso in Waltersbrück für Vorfahren von Roberto perspektivisch geplant sind, sind Spenden für Steine jederzeit willkommen. Die Gemeinde Neuental hat dazu ein eigenes Spendenkonto eingerichtet: Spende Stolpersteine, Debitor: 11 23 43, Bankverbindungen der Gemeinde Neuental, Kreissparkasse Schwalm-Eder: IBAN: DE73 5205 2154 0177 0890 26, BIC: HELADEF1MEG.