Ein Jahrhundert Zeitgeschichte


Vor 100 Jahren, am 16. Oktober 1924, wurde Helmut Katz in Neuenhain geboren. Gemeinsam mit seinem Bruder Otto, seiner Schwester Ilse sowie den Eltern Moritz und Clara wuchs er in einem kleinen Bauernhaus auf, das auch einer Ziege und einer Kuh Platz bot. Helmut erinnert sich noch gut an Pferde- und Ochsengespanne, die Felder pflügten, an den Gemüsegarten und an Erntearbeiten, bei der er als Kind fleißig mithalf. Landleben pur. „Den Geruch vom Misthaufen habe ich immer noch in der Nase“, erinnert sich das Geburtstagskind.

Die Eltern betrieben ein kleines Geschäft, in dem sie Kaffee, Tee, Reis, Zucker, Brot, Gebäck, Tabakwaren und Süßigkeiten anboten. Die Familie Katz war die einzige jüdische Familie im Dorf, doch in Zimmersrode und Dillich gab es viele befreundete jüdische Einwohner.  Helmut fuhr oft mit dem Fahrrad nach Dillich, wo er in einem Fachwerkhaus in einer Synagoge an Gottesdiensten teilnahm. „Am Shabbat ging man die Strecke zu Fuß“, merkt er an, denn an diesen Feiertagen war den Juden körperliche Betätigung wie Fahrradfahren verboten.

Kindheit auf dem Lande: Die Familie Katz lebte in Neuenhain und Borken. Das Foto zeigt typische Szene des Neuenhainer Landlebens: Helmut Katz und sein Bruder Otto halfen als Kinder fleißig bei Erntearbeiten mit (Foto aus dem Besitz von Harold Katz / USA, vor 1930). 

Im Jahr 1930 zog die Familie Katz in die aufstrebende Bergbau- und Kraftwerksstadt Borken um. Doch die Weltwirtschaftskrise war trotz des Großkraftwerks auch hier zu spüren. Das dreistöckige Haus in der Bahnhofstraße besaß zwar eine Ladenfläche, die zur Straße hin ausgerichtet war, zudem gab es eine Heizungsanlage und Toiletten – aber: Das Geld war knapp. „Wir verwendeten statt Kohle oft Holz zum Heizen. Manchmal blieben die Öfen ganz aus und wir wärmten uns mit aufgeheizten Ziegelsteinen, die wir ins Bett legten“, berichtet der Borkener Neubürger. Um zusätzliches Geld zu verdienen, vermieteten die Eltern den 3. Stock.

Die jüdische Gemeinde in Borken war größer als die in Dillich. In der Altstadt gab es rund um den Marktplatz viele jüdische Geschäfte, Läden und Metzgereien, die zum Beispiel koscheres Fleisch zubereiteten und mit ihren Fleischwaren sogar die Märkte in Kassel belieferten. Die Juden arbeiteten als Kaufleute, Handelsvertreter, Viehhändler und in der Pharmazie. Damals fuhr die jüdische Familie Blum das einzige Auto in Borken. Helmut erinnert sich noch gut, dass seine Familie das Laubhüttenfest in einem kleinen Gartenpavillon feierte.

Der Lehrer der jüdischen Schule, Levi Katz, bereitete die Jungen auf die Bar Mizwah vor und fungierte auch als eine Art Rabbiner in der Synagoge, die sich in der Hintergasse befand. Die Jüdische Schule in der Pferdetränke wurde 1934 von den Nationalsozialisten geschlossen. Diese Schließung war für Helmut eine der ersten direkt spürbaren Folgen rassistischer NS-Politik. Er und seine Schwester mussten auf eine öffentliche Schule wechseln, wo jüdische Kinder oft gemobbt und ausgegrenzt wurden.

Antisemitismus und Ausgrenzung
Überhaupt: Die Lage der jüdischen Familien in Borken verschlimmerte sich zusehends. Sie sahen sich Anfeindungen, Hass, Rassismus, Boykotts, Drangsalierungen und körperlicher Gewalt ausgesetzt – auch von Borkener SA-Männern und Schlägertrupps. Viele Juden verließen die Bergbaustadt. Moritz und Clara Katz bemühten sich seit dem Juli 1937 um eine Ausreise mit dem Ziel Palästina, Argentinien oder den Vereinigten Staaten. Sie verkauften das Haus in der Bahnhofstraße und zogen für kurze Zeit in das Haus des Kaufmanns Blum.

Als einer der letzten jüdischen Kinder erlebte Helmut Katz im September 1937 noch seine eigene Bar Mizwah – seiner Ansicht nach die letzte dieser Feiern in Borken. Im Februar 1938 reisten Helmut und Ilse mit ihrer Mutter zum Amerikanischen Generalkonsulat nach Stuttgart, um die Ausreiseanträge zu stellen. Der Vater Moritz und der ältere Bruder Otto waren bereits in der Neuen Welt, um die übrigen Familienmitglieder nachzuholen. Im März 1938 war es dann soweit. Helmut, Ilse und Clara reisten per Zug nach Antwerpen, bestiegen am 11. April 1938 die „SS Gerolstein“, überquerten den Atlantik und trafen im Hafen von New York Vater Moritz und Bruder Otto. Die Familie war wieder vereint.

Gerade noch rechtzeitig, denn schon am 8. November 1938 verwüsteten die Nazis die Borkener Synagoge, verprügelten und inhaftierten zahlreiche jüdische Bürger. Viele der verbliebenen Borkener Juden wurden Opfer des Völkermords. Zu den Holocaustopfern zählt auch Helmuts Großmutter, die zunächst nach Almelo in Holland flüchtete, dann aber im Mai 1943 im Alter von 85 Jahren im Todeslager Sobibor ermordet wurde. Ein Verbrechen jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.   

Ankunft in Amerika
Helmuts Familie fand im New Yorker Stadtteil Bronx in der 796 East 163rd Street eine erste Unterkunft. Er selbst bezeichnete die Gegend als „crime-infested“, als verbrechensinfiziert. Ein Kulturschock. Die teure Ausreise hatte die Familienkasse trotz Hausverkaufs vollständig geleert. Der Vater verdiente lediglich 21 US-Dollar in der Woche. Von dem Einkommen ging das meiste für die Miete und den kargen Lebensunterhalt drauf. Die hygienischen Verhältnisse im angemieteten „Appartement“ waren eine Katastrophe. Es gab Mäuse, Schaben und Bettwanzen, so dass Familie Katz sich schleunigst eine andere Bleibe suchte.

Helmut staunte über die farbigen Nachbarn. Er hatte noch nie Schwarze gesehen. Immerhin: Jüdische Freunde, die ein ähnliches Schicksal wie die Familie Katz hatten, nahmen sie in ihren Kreis auf und halfen bei der Einbürgerung. Helmut änderte seinen Namen in Harold. Fortan nannte ihn jeder Hal. Seine jüdischen Freunde hießen jetzt Shrimpy, Shnoz, Gimpy, Torch und Curly, die als „The Typhoons“ gemeinsam Stickball spielten.

Am 28. September 1943 musterte die US-Armee Hal, zog ihn am 10. Oktober 1943 im Fort Dix ein und versetzte ihn mit der 88. Infanteriedivision an den Kriegsschauplatz in Italien. Nach seiner Entlassung aus der Army startete Hal mit großem Einsatz und Engagement eine sehr erfolgreiche berufliche Karriere in Amerika und gründete eine eigene Familie. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hal blieb trotz der schlimmen Erlebnisse seiner Heimat treu. Im Jahr 2017 besuchte er anlässlich einer Stolpersteinverlegung mit seinen Angehörigen seinen Geburtsort Neuenhain und den Ort seiner Kindheit Borken. Seine Familie und er trugen sich in das Goldene Buch der Stadt ein. Die Gruppe besuchte die Jüdischen Friedhöfe in Borken und Haarhausen, die Gedenkstätte am Ort der ehemaligen Synagoge und unternahm zudem einen Ausflug nach Kassel. Hier besichtigten sie im Hauptbahnhof den Ort, von dem aus die Deportationszüge in die Todeslager fuhren. Heute befindet sich dort eine Gedenkstätte.

Hal brachte seine Kindheits- und Jugenderinnerungen für seine Nachfahren zu Papier und übereignete ein Exemplar seiner „Recollections“ (Erinnerungen) auch an das Stadtarchiv und den Geschichtsverein.

Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Borken (Hessen): Harold „Hal“ Katz trägt sich am 18. Mai 2017 in das Goldene Buch der Stadt Borken (Hessen) ein (Foto: Stadtarchiv Borken (Hessen)).

Der Bürgermeister, der Magistrat und das Stadtarchiv Borken gratulieren Hal Katz sehr herzlich zum 100. Geburtstag, bedanken sich für seine lesenswerten, authentischen Schilderungen zum jüdischen Leben in Borken und kündigen an, dass am 8. November eine erste Publikation zur jüdischen Geschichte Borkens erscheinen wird. Bislang wurden in Borken 34 Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer der NS-Verbrechen verlegt. Weitere werden folgen, so dass neue Erinnerungsorte entstehen. Hal: Alles Gute für Dich! Herzliche Glückwünsche zum 100. Geburtstag!