Das Stadtarchiv Borken weist auf eine besondere Führung am „Tag des offenen Denkmals“ hin:


Der Sammelfriedhof der jüdischen Verstorbenen im ehemaligen südlichen Kreis Fritzlar in Borken-Haarhausen diente vermutlich ab Mitte des 16. Jahrhunderts mehr als einem Dutzend jüdischen Gemeinden Nordhessens in einen mehr als elf Kilometer großen Radius als ewige Ruhestätte. Noch heute befinden sich auf diesem 372 Gräber, das älteste ist auf das Jahr 1705 datiert und das jüngste wurde im Jahr 1940 angelegt. Nach jüdischem Brauch wurden die Friedhöfe abseits der Ortschaften angelegt, damit die ewige Ruhe der Toten bewahrt bleibt. Die Gräber sind für die Ewigkeit angelegt und der Ruheplatz wird deshalb auch kein zweites Mal belegt. 

Das Grab von Seligmann und Johanna Rothschild auf dem jüdischen Friedhof in Borken-Haarhausen im originalen Zustand, heute liegt der Grabstein der beiden auf dem Boden (alle Fotografien: Archiv Thomas Schattner).

Den Tag des offenen Denkmals nehmen Rainer Scherb und Thomas Schattner zum Anlass, eine Führung über den Friedhof anzubieten. Auch wenn dabei die Friedhofsruhe etwas gestört wird, schließlich handelt es sich bei diesem Friedhof um ein einzigartiges jüdisches Kulturdenkmal. Dabei steht der Friedhof als solcher mit seiner Geschichte genauso im Zentrum der Führung wie der jüdische Totenkult. Ein weiterer Schwerpunkt der Führung ist ein ganz besonderer. Es wird auch um das Grab des Kaufmanns Seligmann Rothschild (1848 bis 1925) aus Waltersbrück und seiner Ehefrau Johanna, geborene Katzenstein (1858 bis 1932), gehen.

Diese undatierte Fotografie zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit Johanna Rothschild, geborene Katzenstein (1858 bis 1932), aus Neuental-Waltersbrück.

Durch Kontakte zu einem Nachfahren der Familie kamen die beiden Initiatoren in den Besitz von Kopien der Grabrede für Johanna Rothschild vom 24. April 1932 und weiteren Familiendokumenten. Die Grabrede hielt Levi Katz (1876 bis 1963), seit 1910 Lehrer und Kantor in Borken. Auszüge aus dieser Ansprache werden am Grab von Johanna Rothschild nach fast einhundert Jahren erneut vorgetragen werden. Auf ihrem Grabstein wurde Johanna wie folgt beschrieben: „Hier ruht eine sittsame Frau auf all ihren Wegen, aufrichtig und untadelig in ihren Handlungen; stets war sie auf das Wohl ihres Mannes bedacht“. Johanna verstarb wie ihr Ehemann Seligmann sieben Jahre zuvor während des hier in der Diaspora achttägigen Pessach-Festes, einem der höchsten jüdischen Feiertage, einem Fest des Feierns, wo eigentlich kein Platz für Trauer vorhanden ist. Wohl deshalb wurde Johanna, obwohl sie an einem Mittwoch verstarb, erst am folgenden Sonntag beerdigt. Normalerweise sollen die Toten im Judentum möglichst innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden.

Johanna und Seligmann waren 45 Jahre verheiratet, aus der Ehe gingen neun Kinder hervor, drei von ihnen starben im Kleinkindalter. Auf Johannas Sterberegistereintrag wird sie als „Auszügerin“ bezeichnet, was darauf schließen lässt, dass sie das Wohnhaus der Familie schon ihren Kindern vermacht hatte. Den Tod der 74-Jährigen meldete die Hausangestellte Katharina Koch auf dem Standesamt in Zimmersrode. So kann davon ausgegangen werden, dass Johanna im Alter ein wahrscheinlich recht sorgenfreies Leben führen konnte, dass sie versorgt war. Die Rothschilds lebten vermutlich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts im heutigen Zimmersröder Ortsteil Waltersbrück und waren eine angesehene Familie im Ort gewesen. „Johanna genoss die Achtung der Dorfgenossen“, so Levi Katz in seiner Ansprache ein Jahr vor Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich im Januar 1933. Die Kinder von Johanna und Seligmann Rothschild konnten glücklicherweise alle vor den Repressalien der Nationalsozialisten fliehen und so dem nationalsozialistischen Holocaust entkommen. Sie überlebten in Argentinien und in den USA.

Eigens zur Führung wird ein Nachfahre der Rothschilds aus Waltersbrück, ein Urenkel mit Ehefrau, nach Haarhausen anreisen, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Im Rahmen der Veranstaltung wird er auch persönlich seinen Vorfahren gedenken.   

Aus Respekt vor den Toten, werden alle Männer gebeten, eine Kippa oder eine andere Kopfbedeckung während der Führung zu tragen. Die Führung beginnt am 8. September 2024 um 11:00 Uhr am Eingang des jüdischen Friedhofs in Borken-Haarhausen.